Die älteste Kunde von der Insel
Zur Zeit, da Kaiser Augustus "alle Welt" regierte, war unser Rügen
noch ein den Kulturvölkern unbekanntes Land. Erst ungefähr 100
Jahre später berichtet der römische Geschichtsschreiber CorneliusTacitus
in seiner unschätzbaren Germania von den Rugiern, die am Ozean - dem
Baltischem Meere -wohnten. Gering ist die Kunde, die er von ihnen hat:
Sie hätten runde Schilde und kurze Schwerter gehabt und unter Königen
gestanden; das ist alles was er noch von ihnen, wie von ihren Nachbarn
den Gothen und Lemoviern, weiß.
Doch müssen diese Rugier nach seiner Beschreibung in der Gegend
des heutigen Rügen und Pommern gesessen haben, wenngleich er Rügen
nicht nennt, und diese Insel erst im Mittelalter nach ihren Uranwohnern
nachträglich ihren Namen erhalten hat, wie wir später sehen werden.
Eines aber ist gewiß, Rügen und das benachbarte Pommern waren
im Beginn unserer Zeitrechnung von Germanen bewohnt, denn als Germanen
zählt Tacitus alle Völker von der Weichel bis nach Holstein auf.
Aber noch eine andere Kunde hat der Römer von diesen alten Anwohnern
der Ostsee, eine Kunde, die im Mittelalter als auf Rügen bezüglich
in Anspruch genommen wurde, und die jetzt trotz aller Gegenkritik unser
Eiland mit dem geheimnisvollen Schimmer uralter, schauervoller Sagen umkränzt.
Tacitus erzählt im 40. Kapitel der Germania:
"Sie verehren gemeinschaftlich die Nerthus, das ist die Erdmutter,
und glauben, sie bekümmere sich um die Angelegenheiten der Menschen
und fahre bei den Völkern umher. Es befindet sich auf einer Insel
des Ozeans ein heiliger Hain und in demselben ein geweihter Wagen, mit
Tuch verhüllt. Nur der Priester darf ihn berühren. Er weiß,
daß drinnen die Göttin weilt, und geleitet die von Kühen
gezogene mit tiefer Ehrfurcht. Feiertage sind dann, festlich geschmückt
die Orte, die sie des Besuchs und der Einkehr würdigen. Man kriegt
nicht, man führt keine Waffen, verschlossen liegt alles Kampfgerät,
Friede und Ruhe sind dann nur verbreitet, dann nur begehrt, bis ebenderselbe
Priester die Göttin, wenn sie ihr Verlangen nach Umgang mit den Sterblichen
befriedigt hat, in den Tempel zurückführt. Darauf wird Wagen
und Gewänder, und, wenn du es glauben willst, die Gottheit selbst
im abgelegenem See gereinigt. Sklaven tun es, und diese verschlingt sofort
ebenderselbe der See. Daher denn auch der geheimnisvolle Schauer und die
fromme Unwissenheit darüber, was dasjenige sei, das nur die dem Tode
Verfallenen schauen. "
Auf einer Insel im Ozean also befand sich dieser heilige Wald mit dem
geheimnisvollen See, an welchem der letzte schaurige Akt des sonst so heiteren
Dramas sich abspielte. Mit keiner Silbe sagt Tacitus, daß Rügen
das Eiland gewesenm, auf dem dies gemeinsame heiligthum der Nerthus sich
vorfand, ja nicht einmal die Rugier nennt er als beteiligt an diesem Kultus.
Er kannt wahrscheinlich selber nicht den Namen dieser geheimnisvollen Insel,
doch mag sie nach seiner Schilderung in der Ostsee gelegen haben. Aber
gerade dies rätselhafte Dunkel, das über einem, mit solchem Zauber
umgebenen Eilande lag, reizte die Forscher zu dem Versuch, den Schleier
zu lüften und die Stätte solcher schaurigen Vorgänge zu
entdecken. Freilich, in den Stürmen der Völkerwanderung und der
folgenden jahrhunderte langen Kämpfe zwischen Germanen und Slaventum
ruhte die Kunde des Tacitus in der Verborgenheit klösterlichen Bibliotheken.
Aber als im Mittelalter des großen Römers Schriften gedruckt
und überall gelesen wurden, als in friedlicher Absicht des Wissendranges
Gelehrte unser Rügen betraten, da tauchte vor ihren Augen des Tacitus
Nachricht auf, als sie vom flüstern der Stubnitz sich umrauscht fühlten,
als sie, im Waldesdunkel verborgen, den schwarzen abgelegenen See vor sich
sahen und den hohen Burgwall daneben. Und wunderbar klar und gewiß
wurde es dem eifrigen und gelehrten Professor Klüver an dieser geheimnisvollen
Stätte:
ja hier müsste der Nerthus oder Hertha, wie man sie nannte, Heiligtum
gestanden haben, dies müsste der See sein, der die Opfer verschlungen.
Es war um die Wende des 16. oder dem Anfang des 17. Jahrhunderts, als genannter
Klüver für Rügen das Recht, und den Ruhm zum ersten Male
in Anspruch nahm, die rätselhafte Insel des Tacitus zu sein. Die örtliche
Beschaffenheit, die frappante Ähnlichkeit mit der tacitäischen
Schilderung hatten ihn voll überzeugt von der Berechtigung und Richtigkeit
seiner Behauptung. Unsere pommersche Geschichtsforscher kamen im Laufe
der Zeiten nach ihm, z. B. ein Mikrälius und ein Schwartz. Auch sie
bestimmten die mit des Tacitus Überlieferung übereinstimmende
Lokalität zu demselben Urteil. Und kam auch der Zweifel dazwischen,
nahmen auch andere Gelehrte für andere Inseln, z. B. Alfen, Fehmann,
ja selbst Helgoland, denselben Ruhm in Anspruch, keiner all dieser Inseln
entsprach so sehr dem Wortlaute der Urkunde, keine wurde so häufig
besucht und so von Dichtern verherrlicht als Rügen, und seit dem Ende
des vorigen Jahrhunderts war die Sage auf Rügen eingebürgert
und die Insel allbekannt als der Sitz des uralten Herthakultes. Und so
ist unsere Insel es geblieben, der Zauber dieses schaurig-feierlichen Dramas
lockt heutzutage Tausende zu jener Stätte, an die das für die
Natur empfänglicheGemüt des alten Gelehrten Klüver jene
Szenen versetzte, und, unbekümmert um das historische Recht zu solchem
Anspruch, durchleben Tausende am Herthasee die ersten Schauer germanischer
Vorwelt auf Rügen.
Die alten germanischen Rugier aber, die wahrscheinlich ersten Bewohner
Rügens und der anliegenden pommerschen Küsten, trieben die Fluten
der Völkerwanderung von ihren heimatlichen Fluren fort, weit fort.
An der Mitteldonau rasten sie kurze Zeit, als das Hunnenreich nach Attilas
Tode zerfallen war;auch sie waren im Heeresgefolge dieses Allgewaltigen
gewesen und hatten auf den katalaunischen Gefilden die Riesenschlacht mitgefochten
gegen Westgothen und Römer. Aber in dem Drängen und Wogen der
Völker duldets auch sie nicht lange in ihrem neuen Rugierreiche an
der Donau. Nach Italien, dem Sehnsuchtsziel der deutschen Wandervölker,
treibt´s auch sie, und ihrem Heerführer Odoaker war der ewige
Ruhm beschieden, dem weströmischen Reiche ein Ende zu machen. In Italien
richten sie sich dann wohnlich ein, soweit es unter den fortwährenden
Kämpfen geht. Aber Odoaker fiel im Ringen gegen die hereinbrechenden
Ostgothen mit dem größten Teil seines Stammes. Der Rest schloss
sich den Siegern an, teilte deren kurzes Glück in Italien und kämpfte
in echt deutscher Treue an Totilas und Tejas Seite den letzten Todeskampf
der Gothen mit, dort in der furchtbaren Schlacht am Vesuv, wo germansiche
Heldenkraft welscher Arglist endlich unterlag. Mit dem Erlöschen des
Ostgothenstammes verschwindet auch der Name der alten germanischen Rugier
für immer aus der Geschichte.
Was war denn nun in dem verlassenen Stammlande am baltischen Meere
und auf Rügen inzwischen geschehen?
Wir wissen es nicht. Keines Schriftstellers Auge hat die Vorgänge
belauscht, die hier sich vollzogen in den Jahrhunderten nach Auswanderung
der Germanen, und keine Feder hat auch die geringste Kunde aufbewahrt ,
wann und wie hier Veränderungen vorangegangen sind. Erst zu
Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts erfahren wir, dasß der
große Kaiser jenseits der Elbe gegen slavische Völker kämpfte,
die das Land bewohnten, wo zu Tacitus Zeiten Germanen hausten. Daraus schließen
wir, daß alles Land von der Elbe an nach Osten hin von Slaven in
Besitz genommen wurden, nachdem die Germanen es verlassen hatten. Auch
Rügen wurde mit Slaven bevölkert in diesen Zeiten, aber in welchem
Jahre und wie das geschehen, ob noch schwache Reste von Germanen da waren,
die von den Slaven aufgerieben wurden oder mit ihnen verschmolzen, darüber
berichtet keine Kunde. Als Rügen im 10. Jahrhundert allmählich
anfängt, aus dem Dunkel der Unbekanntschaft in das Licht der Geschichte
einzutreten, hat es eine slavische Bevölkerung.
Aber unsere Insel heißt zu der Zeit nicht Rügen, sondern
"Reuna", "Roja", "Roe", und die Bewohner "Rani", Ruani", "Rojani", auch
vereinzelt "Rugiani". Am ersten und häufigsten kommt der Name "Rani"
vor. Entweder haben die eingewanderten Slaven dem Eilande selbständig
diesen Namen gegeben und sind dann danach benannt worden, wie man ja meint,
daß in Ruja die slawische Wurzel sei, polnisch roy = Schwarm, roie,
ich schwärme, liegt, und die Insel also diejenige sei nach der und
von der das Volk ausgeschwärmt sei; oder sie haben den vorgefundenen
alten Namen Ruga oder Rugia in ihrer Mundart umgebildet, etwa wie die Germanen
die vorgefundenen römischen, z. B. Kolonia in Köln. Erst im Mittelalter,
als man wieder von des Tacitus Rugiern hörte, bekam die Insel den
Namen Rugia, aus dem Rügen geworden ist.
Diese slavischen Ruani nun, die unser Eiland und jedenfalls auch die
benachbarte Küste Pommerns seit dem 6. oder 7. Jahrhundert bewohnten,
erscheinen zum ersten Male im Jahre 955 in der Geschichte, und zwar höchst
unerwartet als Bundesgenossen der Deutschen. Es war das Jahr, wo Kaiser
Otto der Große den Ungarn auf dem Lechfelde für immer die Lust
zum Einfall in Deutschland benommen hatte. Noch im Herbste eilte er darauf
nach Norden, um die wieder gegen die deutsche Herrschaft empöreneden
Slaven zu bestrafen. An der Rara, wahrscheinlich die Recknitz im heutigen
Mecklenburg, erwarteten die Feinde den Kaiser. Dieser war in Verlegenheit,
wie er angesichts des slavischen Heeres über den Fluss kommen sollte,
da zeigten ihm die ihm befreundeten und der Gegend kundigen Ruanen eine
Meile entfernt von dem Lager einen Übergang. Schnell werden dort Brücken
geschlagen, das Heer hinübergeführt und die überraschten
Slaven besiegt. Wie Otto sich die Freundschaft der Ruanen erworben, und
was sie trieb, gegen ihre Stammesverwandten zu kämpfen, das lässt
sich nicht bestimmen. Jedenfalls lebten sie schon damals mit ihren Nachbarn
in ewiger Fehde, und Otto benutzte, diplomatisch klug wie Kaiser Karl,
die inneren Zwistigkeiten der Slaven zu ihrer aller Unterwerfung. - Nach
diesem plötzlichen, meteorartigen Auftauchen verschwindet unsere Insel
mit ihren Ranen für anderthalb Jahrhunderten spurlos aus der Geschichte.
Es ist, als habe Rügen in tiefer Abgeschiedenheit sich stärken
und vorbereiten müssen zu der großen Katastrophe, die dann im
12. Jahrhundert verheerend und alles Bisherige umwälzend über
das Eiland hereinbrach. Der Stille vor dem Gewittersturm ist diese Ruhepause
zu vergleichen, denn seit dem Jahre 1100 ist Rügens dauernd in die
Wirren der Weltgeschichte hineingezogen; erst mit diesem Jahre beginnt
die eigentliche und eigentümliche Geschichte Rügens. |