Geschichte Rügens - von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart - von Otto Wendler, 1895

Die älteste Kunde von der Insel

Zur Zeit, da Kaiser Augustus "alle Welt" regierte, war unser Rügen noch ein den Kulturvölkern unbekanntes Land. Erst ungefähr 100 Jahre später berichtet der römische Geschichtsschreiber CorneliusTacitus in seiner unschätzbaren Germania von den Rugiern, die am Ozean - dem Baltischem Meere -wohnten. Gering ist die Kunde, die er von ihnen hat: Sie hätten runde Schilde und kurze Schwerter gehabt und unter Königen gestanden; das ist alles was er noch von ihnen, wie von ihren Nachbarn den Gothen und Lemoviern, weiß.
Doch müssen diese Rugier nach seiner Beschreibung in der Gegend des heutigen Rügen und Pommern gesessen haben, wenngleich er Rügen nicht nennt, und diese Insel erst im Mittelalter nach ihren Uranwohnern nachträglich ihren Namen erhalten hat, wie wir später sehen werden. Eines aber ist gewiß, Rügen und das benachbarte Pommern waren im Beginn unserer Zeitrechnung von Germanen bewohnt, denn als Germanen zählt Tacitus alle Völker von der Weichel bis nach Holstein auf.
Aber noch eine andere Kunde hat der Römer von diesen alten Anwohnern der Ostsee, eine Kunde, die im Mittelalter als auf Rügen bezüglich in Anspruch genommen wurde, und die jetzt trotz aller Gegenkritik unser Eiland mit dem geheimnisvollen Schimmer uralter, schauervoller Sagen umkränzt.
Tacitus erzählt im 40. Kapitel der Germania:
"Sie verehren gemeinschaftlich die Nerthus, das ist die Erdmutter, und glauben, sie bekümmere sich um die Angelegenheiten der Menschen und fahre bei den Völkern umher. Es befindet sich auf einer Insel des Ozeans ein heiliger Hain und in demselben ein geweihter Wagen, mit Tuch verhüllt. Nur der Priester darf ihn berühren. Er weiß, daß drinnen die Göttin weilt, und geleitet die von Kühen gezogene mit tiefer Ehrfurcht. Feiertage sind dann, festlich geschmückt die Orte, die sie des Besuchs und der Einkehr würdigen. Man kriegt nicht, man führt keine Waffen, verschlossen liegt alles Kampfgerät, Friede und Ruhe sind dann nur verbreitet, dann nur begehrt, bis ebenderselbe Priester die Göttin, wenn sie ihr Verlangen nach Umgang mit den Sterblichen befriedigt hat, in den Tempel zurückführt. Darauf wird Wagen und Gewänder, und, wenn du es glauben willst, die Gottheit selbst im abgelegenem See gereinigt. Sklaven tun es, und diese verschlingt sofort ebenderselbe der See. Daher denn auch der geheimnisvolle Schauer und die fromme Unwissenheit darüber, was dasjenige sei, das nur die dem Tode Verfallenen schauen. "
Auf einer Insel im Ozean also befand sich dieser heilige Wald mit dem geheimnisvollen See, an welchem der letzte schaurige Akt des sonst so heiteren Dramas sich abspielte. Mit keiner Silbe sagt Tacitus, daß Rügen das Eiland gewesenm, auf dem dies gemeinsame heiligthum der Nerthus sich vorfand, ja nicht einmal die Rugier nennt er als beteiligt an diesem Kultus. Er kannt wahrscheinlich selber nicht den Namen dieser geheimnisvollen Insel, doch mag sie nach seiner Schilderung in der Ostsee gelegen haben. Aber gerade dies rätselhafte Dunkel, das über einem, mit solchem Zauber umgebenen Eilande lag, reizte die Forscher zu dem Versuch, den Schleier zu lüften und die Stätte solcher schaurigen Vorgänge zu entdecken. Freilich, in den Stürmen der Völkerwanderung und der folgenden jahrhunderte langen Kämpfe zwischen Germanen und Slaventum ruhte die Kunde des Tacitus in der Verborgenheit klösterlichen Bibliotheken. Aber als im Mittelalter des großen Römers Schriften gedruckt und überall gelesen wurden, als in friedlicher Absicht des Wissendranges Gelehrte unser Rügen betraten, da tauchte vor ihren Augen des Tacitus Nachricht auf, als sie vom flüstern der Stubnitz sich umrauscht fühlten, als sie, im Waldesdunkel verborgen, den schwarzen abgelegenen See vor sich sahen und den hohen Burgwall daneben. Und wunderbar klar und gewiß wurde es dem eifrigen und gelehrten Professor Klüver an dieser geheimnisvollen Stätte:
ja hier müsste der Nerthus oder Hertha, wie man sie nannte, Heiligtum gestanden haben, dies müsste der See sein, der die Opfer verschlungen. Es war um die Wende des 16. oder dem Anfang des 17. Jahrhunderts, als genannter Klüver für Rügen das Recht, und den Ruhm zum ersten Male in Anspruch nahm, die rätselhafte Insel des Tacitus zu sein. Die örtliche Beschaffenheit, die frappante Ähnlichkeit mit der tacitäischen Schilderung hatten ihn voll überzeugt von der Berechtigung und Richtigkeit seiner Behauptung. Unsere pommersche Geschichtsforscher kamen im Laufe der Zeiten nach ihm, z. B. ein Mikrälius und ein Schwartz. Auch sie bestimmten die mit des Tacitus Überlieferung übereinstimmende Lokalität zu demselben Urteil. Und kam auch der Zweifel dazwischen, nahmen auch andere Gelehrte für andere Inseln, z. B. Alfen, Fehmann, ja selbst Helgoland, denselben Ruhm in Anspruch, keiner all dieser Inseln entsprach so sehr dem Wortlaute der Urkunde, keine wurde so häufig besucht und so von Dichtern verherrlicht als Rügen, und seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts war die Sage auf Rügen eingebürgert und die Insel allbekannt als der Sitz des uralten Herthakultes. Und so ist unsere Insel es geblieben, der Zauber dieses schaurig-feierlichen Dramas lockt heutzutage Tausende zu jener Stätte, an die das für die Natur empfänglicheGemüt des alten Gelehrten Klüver jene Szenen versetzte, und, unbekümmert um das historische Recht zu solchem Anspruch, durchleben Tausende am Herthasee die ersten Schauer germanischer Vorwelt auf Rügen.
Die alten germanischen Rugier aber, die wahrscheinlich ersten Bewohner Rügens und der anliegenden pommerschen Küsten, trieben die Fluten der Völkerwanderung von ihren heimatlichen Fluren fort, weit fort. An der Mitteldonau rasten sie kurze Zeit, als das Hunnenreich nach Attilas Tode zerfallen war;auch sie waren im Heeresgefolge dieses Allgewaltigen gewesen und hatten auf den katalaunischen Gefilden die Riesenschlacht mitgefochten gegen Westgothen und Römer. Aber in dem Drängen und Wogen der Völker duldets auch sie nicht lange in ihrem neuen Rugierreiche an der Donau. Nach Italien, dem Sehnsuchtsziel der deutschen Wandervölker, treibt´s auch sie, und ihrem Heerführer Odoaker war der ewige Ruhm beschieden, dem weströmischen Reiche ein Ende zu machen. In Italien richten sie sich dann wohnlich ein, soweit es unter den fortwährenden Kämpfen geht. Aber Odoaker fiel im Ringen gegen die hereinbrechenden Ostgothen mit dem größten Teil seines Stammes. Der Rest schloss sich den Siegern an, teilte deren kurzes Glück in Italien und kämpfte in echt deutscher Treue an Totilas und Tejas Seite den letzten Todeskampf der Gothen mit, dort in der furchtbaren Schlacht am Vesuv, wo germansiche Heldenkraft welscher Arglist endlich unterlag. Mit dem Erlöschen des Ostgothenstammes verschwindet auch der Name der alten germanischen Rugier für immer aus der Geschichte.
Was war denn nun in dem verlassenen Stammlande am baltischen Meere und auf Rügen inzwischen geschehen?
Wir wissen es nicht. Keines Schriftstellers Auge hat die Vorgänge belauscht, die hier sich vollzogen in den Jahrhunderten nach Auswanderung der Germanen, und keine Feder hat auch die geringste Kunde aufbewahrt , wann und wie hier Veränderungen vorangegangen sind. Erst zu  Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts erfahren wir, dasß der große Kaiser jenseits der Elbe gegen slavische Völker kämpfte, die das Land bewohnten, wo zu Tacitus Zeiten Germanen hausten. Daraus schließen wir, daß alles Land von der Elbe an nach Osten hin von Slaven in Besitz genommen wurden, nachdem die Germanen es verlassen hatten. Auch Rügen wurde mit Slaven bevölkert in diesen Zeiten, aber in welchem Jahre und wie das geschehen, ob noch schwache Reste von Germanen da waren, die von den Slaven aufgerieben wurden oder mit ihnen verschmolzen, darüber berichtet keine Kunde. Als Rügen im 10. Jahrhundert allmählich anfängt, aus dem Dunkel der Unbekanntschaft in das Licht der Geschichte einzutreten, hat es eine slavische Bevölkerung.
Aber unsere Insel heißt zu der Zeit nicht Rügen, sondern "Reuna", "Roja", "Roe", und die Bewohner "Rani", Ruani", "Rojani", auch vereinzelt "Rugiani". Am ersten und häufigsten kommt der Name "Rani" vor. Entweder haben die eingewanderten Slaven dem Eilande selbständig diesen Namen gegeben und sind dann danach benannt worden, wie man ja meint, daß in Ruja die slawische Wurzel sei, polnisch roy = Schwarm, roie, ich schwärme, liegt, und die Insel also diejenige sei nach der und von der das Volk ausgeschwärmt sei; oder sie haben den vorgefundenen alten Namen Ruga oder Rugia in ihrer Mundart umgebildet, etwa wie die Germanen die vorgefundenen römischen, z. B. Kolonia in Köln. Erst im Mittelalter, als man wieder von des Tacitus Rugiern hörte, bekam die Insel den Namen Rugia, aus dem Rügen geworden ist.
Diese slavischen Ruani nun, die unser Eiland und jedenfalls auch die benachbarte Küste Pommerns seit dem 6. oder 7. Jahrhundert bewohnten, erscheinen zum ersten Male im Jahre 955 in der Geschichte, und zwar höchst unerwartet als Bundesgenossen der Deutschen. Es war das Jahr, wo Kaiser Otto der Große den Ungarn auf dem Lechfelde für immer die Lust zum Einfall in Deutschland benommen hatte. Noch im Herbste eilte er darauf nach Norden, um die wieder gegen die deutsche Herrschaft empöreneden Slaven zu bestrafen. An der Rara, wahrscheinlich die Recknitz im heutigen Mecklenburg, erwarteten die Feinde den Kaiser. Dieser war in Verlegenheit, wie er angesichts des slavischen Heeres über den Fluss kommen sollte, da zeigten ihm die ihm befreundeten und der Gegend kundigen Ruanen eine Meile entfernt von dem Lager einen Übergang. Schnell werden dort Brücken geschlagen, das Heer hinübergeführt und die überraschten Slaven besiegt. Wie Otto sich die Freundschaft der Ruanen erworben, und was sie trieb, gegen ihre Stammesverwandten zu kämpfen, das lässt sich nicht bestimmen. Jedenfalls lebten sie schon damals mit ihren Nachbarn in ewiger Fehde, und Otto benutzte, diplomatisch klug wie Kaiser Karl, die inneren Zwistigkeiten der Slaven zu ihrer aller Unterwerfung. - Nach diesem plötzlichen, meteorartigen Auftauchen verschwindet unsere Insel mit ihren Ranen für anderthalb Jahrhunderten spurlos aus der Geschichte. Es ist, als habe Rügen in tiefer Abgeschiedenheit sich stärken und vorbereiten müssen zu der großen Katastrophe, die dann im 12. Jahrhundert verheerend und alles Bisherige umwälzend über das Eiland hereinbrach. Der Stille vor dem Gewittersturm ist diese Ruhepause zu vergleichen, denn seit dem Jahre 1100 ist Rügens dauernd in die Wirren der Weltgeschichte hineingezogen; erst mit diesem Jahre beginnt die eigentliche und eigentümliche Geschichte Rügens.


 
Rügen als selbständiges Reich
Swantewit und andere rügensche Gottheiten
Die Unterwerfung der Insel durch die Dänen 1168
 
Rügen unter dänischer Oberhoheit
Rügen unter schwedschem Zepter
Rügen ein preußisches Land

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